Treffen vom 11. bis 14. 9. 2012 in Aachen
   
   

 

Unser Treffen in Aachen war ein voller Erfolg. Die von Brad und Kaschi hervorragend organisierten Führungen trugen dazu bei. Bevor wir in den Dom gingen war ich noch in einem Buchladen und sah mir ein neues großes Werk über die Musik des Mittelalters an. Doch zwei Stichworte suchte ich vergebens „Ars nova“ und „Philippe de Vitry“. Das beschäftigte mich sehr, so dass ich vergaß, den Führer durch den Dom, nach der Orgel zu fragen.

Warum ? Weil Karl der Große für die Orgelverbreitung eine bedeutende Rolle spielte.
Karls Vater, der fränkische Kaiser Pippin III. erhielt vom Kaiser Konstatin V. von Byzanz im Jahre 757 eine Orgel geschenkt. Ob sie gebraucht oder nur bewundert wurde, weiß man nicht.
Auch Karl der Große erhielt als politisches Geschenk von Kaiser Michael I. im Jahre 811 ebenfalls eine tragbare Orgel aus Byzanz.

Ob das Instrument gleich spielbar war, oder durch die lange Reise gelitten hatte, ist nicht überliefert. Aber Karl war allen Dingen gegenüber sehr aufgeschlossen und wissbegierig. Also bestellt er (oder sein 3. Sohn) sich den Priester Georg von Venedig, der als Kenner der antiken Orgeln bekannt war, nach Aachen. Georg wird die Orgel spielbar gemacht haben und hat sie dann auch kopiert.
Wunderschön konnte man damit die einstimmigen Gregorianischen Melodien spielen. Karl der Große war begeistert und stellte die Orgel in den Aachener Dom. Wenn man die Geschichte bis hier hört, ist da nichts bei, ist das scheinbar normal.
Doch dem war nicht so:

Die Musik hatte im Altertum alle anderen Künste an Wertschätzung überflügelt. In Griechenland war die Musik der tragende Pfeiler der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung geworden. Die Auswirkungen dieser Anschauungen sind im gesamten Mittelmeerraum und auch im römischen Reich noch nachweisbar.

In dem Fortleben der antiken Instrumentalpraxis sahen dann auch die ersten Christen die stärkste Bindung an heidnische Traditionen. Sie suchten zur Rechtfertigung der Kirchenmusik Hinweise aus dem Neuen Testament. In ihm wird die Gemeinde Christi als singende Gemeinde in der Tradition der Synagoge beschrieben. Deshalb wurde von ihnen die Instrumentalmusik als teuflisches Blendwerk hingestellt und die Gläubigen aufgefordert, Gott in rein geistiger Form allein mit Gesang zu verehren.

Dabei hätte sich die Instrumentalmusik durch das Alte Testament und durch die Psalmen rechtfertigen lassen, wie es auch später geschah. Doch anfänglich ging es der Kirche darum, die Menschen aus dem Bannkreis der Götterkulte zu befreien und da erschien ihr das Instrumentalspiel als lautstarker Beweis für das Fortleben alter Gewohnheiten.

Die Kirchenväter, die Kirche und der Papst hatten es dann geschafft, Musikinstrumente Jahrhunderte aus dem Gotteshaus fernzuhalten.
Die Kirchenväter voran: Ambrosius (nachweisbar 304 – 310) setzte Frauen, die ein Instrument spielen konnten (wie es vor allem im Altertum war) den Freudenmädchen gleich.

Johannes Chrysostomus (339 – 397) erachtete einen Menschen, der ein Musikinstrument spielen kann, geringer als ein Hund. So ein Mensch sei weniger Wert als ein räudiger Hund.
Solche in Predigten verbreitete Ansichten machten es einigen Musikern bis in die Renaissance schwierig, anerkannt zu werden. Man denke an die Spielleute.

Diese Drohungen und Beschimpfungen, schriftlich überliefert, lassen sich seitenlang fortsetzen.
Und was machte Karl der Große? Er stellte seine Orgel in den Dom.
Ganz im Gegensatz zur Forderung und den Ansichten der Kirche. Wer wollte da widersprechen? Der Papst Leo war schwach, konnte nichts dagegen machen.
Das war die erste benutzte Orgel in einem christlichen Gotteshaus.
Andere Kirchen und Dome, die Bischofsitz waren, folgten später und so verdanken wir Karl dem Großen, dass zu unseren Kirchen Orgeln gehören.

Im Mittelalter kulturelle Neuheiten einzuführen gelang nur mächtigen Persönlichkeiten, die den Mut und die Kraft hatten, sich gegen die Kirche durchzusetzen. So auch beim Wandel der Musik.

 

Ars nova

In Meaux, bei Paris, lebte der Bischof Phillipe de Vitry, der um 1320 ein Traktat herausgab: „Ars nova“. Das Werk bezog sich auf eine neue Musikkunst.
Doch was war neu, im Gegensatz zur „Ars antiqua“, den Werken der Notre-Dame-Schule?

Erst mal eine neue Art der Notation von Musik, dann ein Übergewicht der weltlichen Musik über die geistliche, ausschließlich Geltung der Mehrstimmigkeit, Musik als autonomes Kunstwerk befreit von geistlicher Bevormundung,

Kunstförmigkeiten der Rhythmisierung usw.
Das war ein Donnerschlag gegen die von der Kirche geduldete Musik. Das war mehr als aufrührerisch. Für damalige Zeit war es ungeheuerlich. Die Kirche war entsetzt und Papst Johann XXII in Avignon erließ 1322 die Bulle Docta Sanctorum in der härteste Kirchenstrafen angedroht wurden für alle, die de Vitry folgen sollten.

Text aus der Bulle: „Es ist Teufelswerk und eine Verführung des Satans zur Weltlust“.
Jacobus von Lüttich schrieb sofort ein Werk gegen die „Ars nova“ und sah allgemein den Glauben in Gefahr.
Doch Philippe de Vitry, geb. 31.10.1291, gest. 6.9.1361, Dichter, Komponist und Musiktheoretiker, Sekretär Kaiser Karl IV., Clericus und Notarius der französischen Könige Charles IV., Philippe VI. und Jean II., Bischof von Meaux , ließ sich nicht vom Sockel stürzen.

Er galt als der hervorragendste Intellektuelle seiner Zeit, als mathematisches und philosophisches Genie. Seine großen Kompositionen waren keine geistlichen Zweckwerke alter Art mehr. Er verhielt sich wie ein autonomer Künstler der Klassik und gilt heute als größter französische Komponist des 14. Jahrhunderts neben G. de Machaut.

Die päpstliche Bulle interessierte ihn nicht. Selbst ein neues Edikt, 2 Jahre später, gegen die „Ars nova“ vom Papst fürs christliche Abendland erlassen, berührte ihn überhaupt nicht.

Hinzu kam, dass alle Komponisten, die Vitrys „Wandel der Musik zur Wirklichkeit“ folgten, keine Konflikte zwischen ihrem Schaffen und ihrem Glauben empfanden, weil die Weichenstellung zur „Ars nova“ ja von einem Bischof befürwortet wurde und somit von der Kirche kam.

Ob wir heute die abendländische Musik in der Art von Bach, Beethoven und allen anderen, einschließlich Rock und Pop, ohne de Vitrys „Ars nova“ hätten, bleibt eine Frage, denn hätte sich die Kirche nach Willen des Papstes durchgesetzt, wäre die Entwicklung zu der dynamischen Musikkultur, wie wir sie in Europa haben, bestimmt erst sehr viele Jahrzehnte später zum Durchbruch gekommen.

Mit „Ars nova“ wird in der Musikgeschichte heute eine mehr als hundertjährige Epoche bezeichnet.
Bei meinem Besuch in Meaux traf ich auf einen musikalisch gebildeten Historiker, der sehr erstaunt darüber war, dass ich de Vitry kannte, und mit dem „Bergische Ensemble für Alte Musik“, der Musikergruppe aus Heiligenhaus, sogar in Konzerten mehrfach Musik von de Vitry gespielt hatte.

Er konnte es kaum glauben und meinte wehmütig: „In Meaux kennt keiner Philippe de Vitry. Wir haben weder ein Denkmal, noch eine Gedenktafel, ja nicht einmal eine Straße mit seinem Namen gibt es in Meaux. Dabei war er einer der größten Söhne der Stadt“.

Er war aber erfreut, dass das „Bergische Ensemble für Alte Musik“ in mehreren hundert Konterten, in der BRD und Westeuropa, einschließlich in den Schlössern an der Loire, de Vitry wieder belebt hatten.

Auf diesem Bild des „Bergischen Ensemble für Alte Musik“, ist ein Portativ, eine tragbare Orgel, ähnlich wie sie Pippin und Kaiser Karl aus Byzanz erhielten, zu sehen. Das Portativ wurde bis zur Barockzeit unter anderem in Prozessionen eingesetzt.